J. Ganzenmüller: Russische Staatsgewalt und polnischer Adel

Cover
Titel
Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850)


Autor(en)
Ganzenmüller, Jörg
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 46
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
425 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Schierle, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Das Thema „Russische Staatsgewalt und polnischer Adel“ wurde in der Forschung lange von den Konflikten und Aufständen im 19. Jahrhundert bestimmt. Jörg Ganzenmüller nimmt in seiner 2013 veröffentlichten Habilitationsschrift eine „russisch-polnische Perspektive ein“ und wendet sich von einer solchen „einseitigen Konfliktgeschichte“ ab.

Ihm geht es um die Elite, das heißt um den Adel der ehemaligen Gebiete Polen-Litauens, und um die Phasen seiner Integration in das Russländische Imperium. Mit dem Vorhaben, „die Westgouvernements als Provinzen des Zarenreiches zu verstehen“, reiht er seine Studie in die neuesten Forschungen ein, die das Funktionieren des Imperiums und die imperiale Praxis in den Regionen in den Blick nehmen.1 Jörg Ganzenmüller schließt explizit an die Arbeit des finnischen Historikers Lehtonen an, dessen ursprünglich auf vier Bände angelegtes Werk allerdings schon mit dem Jahr 1782 endet.2 Zeitgleich mit Ganzenmüllers Monographie erschien ein Projektband zu den Teilungen Polen-Litauens, an dem der Autor ebenfalls mitgewirkt hat.3

Ganzenmüller analysiert zum einen die zarische Politik und zum anderen die Aneignung von Erlassen und neuen Strukturen in den annektierten Gebieten. Damit greift er Fragestellungen der historischen Implementationsforschung auf. Als chronologischen Rahmen wählt Ganzenmüller die Periode von der Inkorporierung der ersten Gebiete Polen-Litauens 1772 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, das heißt einer Zeit, in der die zarische Adelspolitik noch auf den Novemberaufstand von 1830/31 reagierte. Untersucht wird damit eine Phase forcierten Staatsausbaus und Strebens nach der „Homogenisierung von Territorium und Bevölkerung“ (S. 12), die in Widerspruch zur traditionell indirekten Kontrolle inkorporierter Gebiete geriet. Im Fokus steht die Frage, wie das autokratisch regierte Imperium ständisch verfasste Gesellschaften in das Reichsgefüge integrierte. Den Novemberaufstand 1830/31 sieht Ganzenmüller als Wendepunkt von einer pragmatischen zu einer normativen Integrationspolitik, die nicht länger die Eigeninteressen der Szlachta auf lokaler Ebene berücksichtigte.

In drei groß angelegten Kapiteln untersucht Ganzenmüller folgende Themen: Die Integration der polnischen-litauischen Szlachta in den Reichsadel; die Transformation der polnischen Landtage in russische Adelsversammlungen; Staatsausbau und Herrschaftspraxis in den Westgouvernements.

Im ersten Kapitel arbeitet Ganzenmüller überzeugend heraus, wie schwierig die Kooptation im Falle der polnisch-litauischen Adligen war. Zwei Problemfelder eröffneten sich der zarischen Politik. Zum einen machte es der im europäischen Vergleich hohe Anteil von 7, 5 Prozent Adliger an der Gesamtbevölkerung (S. 48) notwendig, 650.000 Edelleute aus den 1793 und 1795 annektierten Teilungsgebieten in den Reichsadel zu integrieren. Im gesamten russländischen Imperium hatte der Adel aber bis dahin nur 150.000 Personen umfasst. Außerdem passte die große Zahl besitzloser Kleinadliger nicht in das Konzept des Adels als einer grundbesitzenden und staatlichen Funktionselite, wie es Katharina II. zu realisieren suchte. Da die Prozedur der Adelsüberprüfung den Gutsadel bevorzugte, musste die besitzlose Szlachta nun um ihren privilegierten Status kämpfen. Die Adelsrevision, die zunächst in den Händen der ständischen Korporation lag und dann in staatliche Regie überging, hatte die Dezimierung des Adels um 40 Prozent und ein wachsendes „Misstrauen von russischer Staatsgewalt und polnischem Adel“ zur Folge.

Das zweite Kapitel ist der Frage gewidmet, wie die zarische Regierung mit den bestehenden ständischen Korporationen des Adels in den Westprovinzen umging, also mit Institutionen, die es reichsweit erst zu schaffen galt. Wie Ganzenmüller nachweist, wurden die bestehenden Landtage in Wahlkörperschaften umgewandelt, das heißt ihre Funktion beschränkte sich formal nun auf die Wahl von Amtsträgern für die lokale Verwaltung und die Gerichte. Außerdem hatte die Einführung eines Zensus zur Folge, dass allein der mittlere und wohlhabende Adel das aktive und passive Wahlrecht behielt. Der Kleinadel wurde so aus der ständischen Korporation ausgeschlossen, was dem Gleichheitsgrundsatz der Szlachta widersprach. Auch wenn die Standesversammlungen keine politische Interessenvertretung gegenüber der Krone mehr darstellten, so gaben sie dem Adel offenbar „genug Möglichkeiten, die Wahlen zu seiner eigenen Veranstaltung zu machen“ (S. 227).

Das dritte Kapitel behandelt den Ausbau der Verwaltungsstrukturen und das Aufeinandertreffen von zentraler Staatsgewalt und lokaler Selbstverwaltung und liefert eine Typologie der Gouverneure in den polnischen Provinzen. Die Prozesse des Aushandelns, die Ganzenmüller ausführlich beschreibt, zeigen, dass es sich bei den politischen Auseinandersetzungen in den Westgouvernements meist um lokale oder private Zwistigkeiten handelte. Den Wendepunkt brachten erst der forcierte Staatsausbau und die sich wandelnden gegenseitigen Wahrnehmungen nach dem Novemberaufstand, die lokale Differenzen als nationale Konflikte erscheinen ließen. Die untersuchten Fallbeispiele für Aushandlungsprozesse zeigen eine große Vielfalt im Umgang mit neuen Verwaltungsstrukturen. Mitunter gab es produktive Kooperation zwischen Gouverneur und Adelsgesellschaft, z.B. wenn es um den Ausbau von Straßen ging. Hier entsprach das Eigeninteresse des Adels der staatlich verordneten Verbesserung des Kommunikationsnetzes als „Teil einer imperialen Integrationspolitik“ (S. 340). Im Unterschied dazu verweigerten sich die Adligen, wenn es um die Finanzierung eines Denkmals für den Generalgouverneur ging. Nicht kooperativ zeigte sich der Adel 1818 auch bei der Sammlung und Weitergabe der örtlichen Gesetze an die Zentralbehörden, die zur Vorbereitung eines einheitlichen Gesetzbuches hätten dienen sollen. Konfliktfälle zwischen den Gouverneuren und den örtlichen Adelsgesellschaften waren oft Ausdruck des Aufeinandertreffens konkurrierender lokaler Netzwerke. Dies war natürlich keine Besonderheit der Westgouvernements, sondern stellte, wie eine wachsende Zahl von russischsprachigen Publikationen zu einzelnen Regionen des Reiches zeigt, ein weitverbreitetes Phänomen dar.

Im Schlussteil bindet Ganzenmüller seine Ergebnisse in eine komparatistische Perspektive ein. Zunächst vergleicht er die Inkorporierung der polnischen-litauischen mit der anderer fremdländischer Eliten in das Russländische Reich. In einem zweiten Schritt geht er auf die Integrationspolitik der Teilungsmächte Preußen und Habsburger Reich ein. Den Hauptunterschied zur pragmatischen Integration der Ostseeprovinzen und Finnlands in das Imperium sieht Ganzenmüller darin, dass es sich um einen Herrschaftswechsel auf Vertragsbasis und nicht um eine Unterwerfung wie im Falle der Teilungsgebiete Polen-Litauens gehandelt habe.

Auch die Basis für die Verwaltung der Gebiete in Preußen und im Habsburger Reich war eine ganz andere, da diese Verwaltungen nicht auf die örtlichen Eliten angewiesen waren, sondern eigenes Personal einsetzen konnten. Erstaunlicherweise hat es offenbar bei den Verantwortlichen im Zarenreich keinen Blick auf die Politik der anderen Teilungsmächte gegeben, was nicht in die gängige Praxis des Imperienvergleichs passt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Expertise des Komitees für die Westgouvernements, ein Thema, das Ganzenmüller bei seiner Analyse der zarischen Politik leider nicht ausgeführt hat. Dies hätte im Hinblick auf die große Zahl von polnischen Adligen im russischen Staatsdienst und in den Zentralbehörden neue Einblicke in die Genese der zarischen Politik in den Westgouvernements liefern können. Eine dritte Vergleichsebene, die Frage nach der zarischen Kirchenpolitik und nach dem Umgang mit der katholischen Geistlichkeit in den annektierten Gebieten, wäre wohl noch wichtiger gewesen. Sicher galten die geistlichen Eliten eher als „unruhige Elemente“. Da es Ganzenmüller aber um Faktoren der Integration und Desintegration geht, wäre es sinnvoll gewesen, die staatliche Kontrolle der Kirchen und der Geistlichen im Kontext der Integration von Eliten mit zu reflektieren.

Insgesamt hat Ganzenmüller jedoch überzeugend dargestellt, wie das Imperium im Teilungsgebiet in der Phase eines forcierten Staatsausbaus funktionierte und die Integration des örtlichen Adels über eine „Homogenisierung durch Dezimierung“ (S. 47) versucht wurde.

Anmerkungen:
1 Einen Forschungsüberblick bietet Roland Cvetkovski, Reich der Ränder. Zu den imperialen Peripherien in Russland, in: Neue politische Literatur 55 (2010), S. 365–392.
2 Unno L. Lehtonen, Die polnischen Provinzen Rußlands unter Katharina II. Versuch der Darstellung der anfänglichen Beziehungen der russischen Regierung zu ihren polnischen Untertanen, Sortavala 1906.
3 Hans-Jürgen Bömelburg / Andreas Gestrich / Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Osnabrück 2013.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch